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Milizpolitik: Anerkennung und Nachwuchs verzweifelt gesucht

Jugendliche debattieren an einem Tisch zum Thema Klimaschutz
So könnte ein Jugend-Gemeinderat aussehen. Im Bild: Jugendliche diskutieren am vergangenen Sonntag in Bern, wie sie dem Klimaschutz politisch am meisten Nachdruck verleihen können. Marco Zanoni / Lunax

Ein Ideenwettbewerb zeigt: Bei der Stärkung des Milizsystems als einem der Grundprinzipien der schweizerischen Demokratie geht es nicht nur um bessere Rahmenbedingungen und höhere Entschädigungen. Sondern auch um die öffentliche Wahrnehmung.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern auch aussenstehende Autorinnen und Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit derjenigen von SWI swissinfo.ch decken.

Wenigstens eines hat der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) mit seinem “Jahr der Milizarbeit”Externer Link bereits erreicht: Die Probleme des Milizsystems (siehe Box) sind in den Fokus der öffentlichen Diskussion gerückt. Wenn nicht die Milizarbeit selbst, dann immerhin die Sorge darum liegt im Trend. 

Zu Beginn des Jahres präsentierte die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Chur eine StudieExterner Link, in der die Autoren einen Strauss von über 80 Massnahmen vorschlagen, wie das Milizsystem gestärkt werden könnte.

Parallel zur Untersuchung der Experten hat der Gemeindeverband in Zusammenarbeit mit mehreren grossen Unternehmen und Wirtschaftsverbänden auch einen öffentlichen IdeenwettbewerbExterner Link organisiert. Am Dienstag wurden in Zürich die besten Vorschläge prämiert.

Politischer Zündstoff

Mit Vorschlägen überflutet wurden die Organisatoren nicht. Die meisten der 19 eingereichten Ideen stammen aus Verbänden und Organisationen. 

So schlägt die Geschäftsleiterin des Dachverbands der Schweizer Jugendparlamente, Stefanie Bosshard, die Einführung von “Jugendgemeinderäten”Externer Link vor, die parallel und im Austausch mit den “richtigen” Gemeinderäten arbeiten und so Jugendlichen die Gemeindepolitik näherbringen.

Preisverleihung
Sie stehen für die zehn frischesten Impulsen zur Revitalisierung des schweizerischen Milizsystems: die Gewinnerinnen und Gewinner des Wettbewerbs, den der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) im Rahmen des Jahrs der Milizarbeit 2019 ausgeschrieben hatte. Zweiter von links: SGV-Präsident Hannes Germann. SGV

Sandro Lienhart, Präsident der Zürcher Jungfreisinnigen, will, dass Milizarbeit an die Erfüllung der Wehrpflicht angerechnetExterner Link werden kann. Der Vorschlag geht nicht ganz so weit wie jener eines allgemeinen obligatorischen “Bürgerdienstes”, den die liberale Denkfabrik Avenir Suisse vor einigen Jahren lanciert hatte. Politischen Widerstand dürfte er dennoch hervorrufen.

Teil der Ausbildung

Das gilt auch für den Vorschlag von Christine Badertscher. Sie möchte, dass Arbeit in Milizgremien als Ausbildung anerkanntExterner Link wird. Wer etwa im Gemeinderat sitzt, soll sich dafür ECTS-Punkte im Rahmen einer Aus- oder Weiterbildung gutschreiben lassen können.

Auf die Idee gekommen ist Badertscher, die dem Verein Förderung junge Personen in der Gemeindepolitik angehört, aufgrund der eigenen Erfahrung. Die heute 37-Jährige sass acht Jahre für die Grünen im Gemeinderat der bernischen Gemeinde Madiswil. 

Daneben arbeitete sie und studierte Agronomie, wie sie im Gespräch erklärt. “Hätte ich die politische Tätigkeit ans Studium anrechnen können, hätte ich mir beispielsweise ein Leadership-Seminar teilweise sparen können.” Das hätte eine zeitliche Entlastung gebracht.

Vor allem aber würde sich nach Badertschers Überzeugung das Bild der Milizarbeit in der Öffentlichkeit verändern. “Wenn ich Bekannten erzählte, dass ich im Gemeinderat sitze, reagierten sie oft erstaunt und fragten, warum ich mir das antue”, erinnert sie sich.

Mehr

Dass man als Amtsträgerin viel lerne und aus der Tätigkeit auch Vorteile für die berufliche Laufbahn ziehen könne, sei vielen nicht bewusst. Das könnte sich durch eine Anrechenbarkeit als Ausbildung ändern, glaubt Badertscher. “Die Anerkennung und Wertschätzung des Milizsystems würde gestärkt.”

Politiker in die Schulen

Es ist eine Aussage, die man immer wieder hört im Gespräch mit Miliztätigen: Sie begrüssen bessere Rahmenbedingungen und finanzielle Anreize, vor allem aber würden sie sich einen höheren Stellenwert der Milizarbeit bei den Bürgern und einen einfacheren Zugang für die Jugend wünschen.

In diese Richtung geht auch der Vorschlag, der bei der Publikumsabstimmung am Dienstag die meisten Stimmen holte: Der Jungfreisinnige Matthias Müller will in den Gemeinden sogenannte Polit-TreffsExterner Link einführen. Die Idee ist, dass Gemeinderäte Primar- und Sekundarschulklassen besuchen und mit den Schülern über konkrete Probleme und Anliegen reden. 

Jahr der Milizarbeit

Mit dem Jahr der Milizarbeit will der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) die Öffentlichkeit auf die Krise des Schweizerischen Milizsystems aufmerksam machen.

Insbesondere auf Ebene der Lokaldemokratie nimmt die Krise teils dramatische Ausmasse an. Die wichtigsten Faktoren: sinkende politische Beteiligung der Bürger, Mangel an Freiwilligen für politische Ämter, abnehmender politischer Gestaltungsspielraum, Gemeindefusionen, Verschwinden lokaler und regionaler Medien.

Um eine vertiefte interdisziplinäre Diskussion über mögliche Auswege zu fördern, organisiert der SGV im Jahr 2019 schweizweite Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit Partnern aus verschiedenen Sektoren.

Diskussionen zwischen Experten und der Öffentlichkeit sollten Impulse für Reformen geben, die nach Ansicht des SGV dringend notwendig sind, um das Milizsystem zu stärken und zu entwickeln.

swissinfo.ch ist Medienpartner des “Jahres der Milizarbeit” und wird regelmässig Artikel zu diesem Thema veröffentlichen.

Auch direkte Interaktionen über soziale Netzwerke seien denkbar, sagt Müller. “So würde die Gemeindepolitik für die Jungen anschaulicher.”

Vernachlässigtes Nachwuchspotenzial

Er verweist auf die Studie der HTW Chur, gemäss der ein Fünftel der Jungen interessiert wären, ein Amt zu übernehmen.

Das Problem sei, dass sie dazu meist schlicht keine Gelegenheit bekämen, so Müller, der im aargauischen Merenschwand aufgewachsen ist und heute als Doktorand der Rechtswissenschaften in Zürich lebt.

“Wenn es in unserer Gemeinde eine Vakanz gab, wurde alles getan, ausser die Jungen anzufragen.” Und von sich aus hätten sich die meisten Jungen nicht gemeldet, weil ihnen der Zugang zur Politik fehlte. Dies könnten die von ihm vorgeschlagenen Polit-Treffs ändern, ist er überzeugt.

Gemeinden gefragt

Ob die Idee graue Theorie bleibt oder in der Praxis umgesetzt wird, hängt letztlich von den Gemeinden selber ab. Ideen wie jene des Polit-Treffs könnten relativ einfach umgesetzt werden, sagt Hannes Germann, Präsident des Gemeindeverbands und Ständerat der Schweizerischen Volkspartei (SVP).

“Mit Polit-Treffs an Schulen könnte gerade jungen Menschen die Gemeindepolitik nähergebracht und praxisnah vermittelt werden.” Der Verband könnte Erfahrungen aus den Gemeinden sammeln und Tipps für andere Gemeinden geben, so Germann.

Zunächst aber geht es dem Gemeindeverband darum, Ideen zusammenzutragen und eine Diskussion anzustossen. Mitte Jahr will dann die Dachorganisation laut Germann ihre eigene Positionierung zu möglichen Reformen für das Milizsystem in die Runde werfen.

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